Schon vor zwei Wochen war ich in Pau
Grande, komme aber erst jetzt dazu die Erlebnisse aufzuschreiben. In dem Dorf
Pau Grande, am Fuß des Gebirges von Petropolis wurde Garrincha geboren. Grund
genug für Wolfgang, Anja und mich aufs Land zu fahren. Im Auto sprachen wir
über unsere Erwartungen, die eigentlich nicht besonders groß waren. Wir
wussten, das Pau Grande wegen einer englischen Textilfabrik gegründet wurde (in
der Garrincha und seine Familie gearbeitet hat), die sich strategisch an der
Eisenbahnlinie und der alten Straße nach Petropolis angesiedelt hatte. Der Ort
soll weiterhin idyllisch und dörflich sein, aber wegen seiner Abgeschiedenheit
kann man nicht wirklich Referenzen an Garrincha erwarten.

An der Mautstelle des Autobahnrings
fragen wir nach dem Weg, der nicht einfach ist, denn man muss eine Ausfahrt
nehmen, um auf der anderen Spur wieder in Gegenrichtung die eigentliche Abfahrt
zu erreichen. So kommen wir in Pau Grande an. Der Ort ist so verschlafen, wie
wir es uns vorgestellt hatten. Er wird von einer Avenida durchquert, die direkt
auf die Fabrik führt. Links und rechts davon stehen die typischen Arbeiterhäuschen
in einheitlichem Stil.
Wir parken und werden schon kritisch
beäugt. Die erste Person, mit der wir sprechen – Rodrigo – erzählt uns alle
Einzelheiten aus dem Leben von Garrincha und führt uns zum sehr schönen
Bolzplatz der Stadt. Die Textilfabrik wurde verkauft und produziert jetzt
Limonade aus dem Bergwasser. Das ganze Dorf arbeitet dort – wie früher. Dann
zählt uns Rodrigo noch alle Nachfahren von Garrincha auf und entlässt uns am
Haus seiner Enkelin Sandra.

Es sticht zwischen den anderen Häusern
hervor, da es knallgelb angestrichen ist und Bilder von Garrincha an ihm
angebracht sind. Wir sprechen mit Sandras Mann, der uns erklärt, dass ihr Haus
von einer TV-Sendung hergerichtet wurde, die die Garage zu einer Sportsbar
umgebaut haben. Wir besuchen die Bar, die sehr fremd in Pau Grande wirkt, und
bestellen Getränke und Pasteten. Dann kommt Sandra: „Die Krone ist auf dem
falschen Haupt.“, erklärt sie uns. Damit will sie sagen, dass, ihrer Meinung
nach, nicht Pele, sondern Garrincha der
König des Fußball sei. Danach beklagt sie sich, dass die Regierung nicht mehr
in Pau Grande investiert, dass es kein Garrinchamuseum gibt und, dass die
wenigen Gäste nur Fotos von ihrer Bar machen und nichts konsumieren.

Immerhin versucht sie ein Business aufzuziehen
und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre Mutter und Tanten hatten da
eine andere Einstellung. Sie wollten, als Töchter Garrinchas Geld verdienen und
stellten Interviews in Rechnung. Die meisten von Garrinchas direkten Nachkommen
leben in sehr schwierigen Lebensverhältnissen.
Wir ziehen weiter und sehen das
örtliche Stadion, die Turnhalle, die Garrincha-Grundschule und eine Büste. Es
ist schon witzig, dass die Schule nach Garrincha benannt wurde, das Stadion
aber nicht. Die Lampen der Straßenbeleuchtung sind in Form von Fußbällen
gemacht. Irgendwie atmet das Dorf den Geist von Garrincha, die direkte Spurensuche
gestaltet sich aber trotzdem schwierig. Wir hören noch mehrfach die Klagen,
über das Vergessen der Regierung und dass nicht in Pau Grande investiert wird.

Auf der Rückfahrt überlegen wir, was
wirklich gemacht werden könnte. Würde es Sinn machen ein staatliches
Garrinchamuseum in Pau Grande zu errichten? Die ernüchternde Antwort ist: Wohl
kaum. Die Anfahrt war extrem schwierig und nur machbar, weil wir ein Auto haben
und Portugiesisch sprechen. Es gäbe eine Zuglinie in der Nähe, die aber als
gefährlich und verwahrlost gilt. Außerdem: wenn man das Museum gesehen hat, was
macht man dann? Im Gegensatz zu den oberen Städten des Gebirges ist Pau Grande unglaublich
heiß und stickig. Es gibt nicht einmal eine Pension oder Hotel. Das angrenzende
Mage ist sogar geradezu hässlich. Warum sollte also ein ausländischer Tourist
hierher fahren? Für Brasilianer ist wohl am schwierigsten, dass der Ortsname „großer
Stock“, aber eben auch „großer Penis“ bedeutet.
Hier folgt noch der Auszug über
Garrincha aus meinem Buch, was eine Antwort auf die Tese von Alex Bellos
darstellt:
Garrincha, eine der großen mythischen Gestalten des Weltfußballs, wurde 1933 als
Manoel Francisco dos Santos in Pau Grande, im Hinterland von Rio de Janeiro,
geboren. Hauptarbeitgeber in seinem Geburtsort, dessen Name mit „Großer Penis“
übersetzt werden könnte, war eine englische Textilfabrik, in der fast alle
Männer des Dorfes arbeiteten. Auch Garrincha unterschrieb dort mit 14 Jahren
seinen ersten Arbeitsvertrag und kickte bald in der Betriebself. Dort wurde man
auf sein Talent aufmerksam und so bekam er Arbeitserleichterungen, um seine
Kräfte für die Spiele zu schonen. Er wird oft als der unbekümmerte Junge vom
Land beschrieben, der seine freie Zeit damit verbrachte, dem Ball oder den
Tieren des tropischen Regenwalds nachzujagen. Daher auch sein Spitzname
Garrincha: Strohschwanzschlüpfer, ein kleiner, brasilianischer Vogel. Bald fand
der junge Fabrikarbeiter aber auch Gefallen an der Jagd auf das andere
Geschlecht. Seine Eroberungen wurden legendär.
Garrincha
wird gerne mit Curupira, einer Figur der indianischen Mythologie verglichen.
Dieser Pumuckel-ähnliche Waldkobold blickt nach vorne, während seine Füße nach
hinten verdreht sind. So kann er unkontrollierbare und unvorhersehbare Haken
schlagen. Garrincha wurde mit zwei gegensätzlich verdrehten Säbelbeinen
geboren, die jegliche sportliche Betätigung unwahrscheinlich machen. Doch
gerade diese O-Beine ermöglichten ihm die unvorhersehbaren Dribblings, die
seine Karriere bestimmten und ihn berühmt machten.
Mit
19 Jahren wurde er von dem Verein Botafogo in Rio de Janeiro entdeckt und
verpflichtet. Die Legende erzählt, er habe alle seine Verträge blanco
unterschrieben und wurde von dem Verein, bei dem er fast seine gesamte Karriere
blieb, ausgenutzt. Bei Botafogo traf er auf Spieler wie Didi, Zagallo und vor
allem Nilton Santos, dem Rückgrat der Nationalmannschaft, die 1958 nach
Schweden zur WM fuhr.
Nach
den Enttäuschungen bei den Turnieren in Brasilien und der Schweiz wollte
Brasilien 1958 unbedingt den Titel gewinnen. Trainer Vicente Feola wurde mit
fast unbeschränkten Mitteln und Befugnissen ausgestattet. Ein zwölfköpfiger
Trainerstab mit Ärzten, Psychologen und Assistenten wurde ihm zur Seite
gestellt. Wie schon 1938 begann die Vorbereitung Monate vor der WM mit einem
Trainingslager, diesmal in Poços de Caldas. Ein Gesundheitscheck offenbarte den
erschreckenden Gesundheitszustand, in dem sich die Nationalspieler befanden:
470 zu behandelnde Zähne, von denen 32 gezogen werden mussten, Würmer,
Parasiten und sogar Syphilis. In dem dazugehörigen Intelligenztest schnitt
Garrincha schlecht ab: mit dem bei ihm ermittelten IQ hätte er in Brasilien
nicht einmal Bus fahren dürfen.
Schon
zwei Wochen vor dem ersten WM-Spiel kam die Seleção nach Europa, um sich mit
Testspielen in Italien vorzubereiten. An dem Mythos Garrincha wurde dann auch
in Schweden fleißig weitergestrickt. Zum einen zeugte Garrincha in Schweden
einen Sohn namens Ulf, zum anderen wurde er überall als naiv und geistig
beschränkt dargestellt. So kursiert die Geschichte, er habe in Schweden ein
Radio gekauft. Doch nachdem ihm ein Mitspieler sagte, dass dieses ja nur
Schwedisch sprechen würde, habe Garrincha das Radio weggeworfen.
Nebenbei
wurde auch noch Fußball gespielt. Für die Partien gegen Österreich (3:0) und
England (0:0) wurde Garrincha nicht berücksichtigt. Dafür zeigte er im letzten
Vorrundenspiel gegen die Sowjetunion (2:0) sein ganzes Können und wurde zu einem
festen Bestandteil der Nationalmannschaft. Brasilien besiegte anschließend
Wales (1:0), Frankreich (5:2) und im Finale Schweden (5:2). Der unbekümmerte,
naive und verspielte Stil Garrinchas war mitentscheidend für den ersten Titel
des Fußballriesen Brasilien. Fortan wollte sich das Land exakt mit jenen
Eigenschaften identifizieren, die João Lyra den Brasilianern zuvor negativ
zugeschrieben hatte. Man wollte die Curupira des Weltfußballs sein.
Doch
der Höhepunkt in Garrinchas Karriere sollte noch folgen - und gleichzeitig
seinen Niedergang einleiten. Garrincha war seinerzeit mit seiner Jugendliebe
Nair verheiratet, mit der er insgesamt neun Kinder hatte. 1961 lernte er die
berühmte Sambasängerin Elza Soares kennen und begann eine Beziehung mit ihr.
Seine erste Ehe wurde geschieden. Just zur selben Zeit stürmte Elza mit dem
Titel „Ich bin die Andere“ die Charts. Zuvor hatte die brasilianische
Öffentlichkeit stets den Mantel des Schweigens über frühere Eskapaden gedeckt.
Die nun öffentlich zur Schau gestellte Untreue aber war zu viel, und das Paar
wurde schwer angegriffen.
Im
Vorfeld der WM 1962 beruhigten sich die Dinge. Erneut bereitete der
Fußballverband alles akribisch vor. Es wurden sogar chilenische Prostituierte
ausgewählt und einem Gesundheitscheck unterworfen, damit sie den Spielern
gefahrlos zur Verfügung standen. Das Weltturnier 1962 wurde zum großen
Schaulaufen Garrinchas. Er gewann den Titel quasi im Alleingang und erzielte
vier Tore. Die Vorrunde überstand Brasilien mit Siegen gegen Mexiko (2:0) und
Spanien (2:1) und einem Unentschieden gegen die Tschechoslowakei (0:0). In der
K.o.-Runde besiegte man im Viertelfinale England (3:1) und im Halbfinale
Gastgeber Chile (4:2). In diesem Spiel wurde Garrincha wegen eines
Revanchefouls, das nur der Linienrichter gesehen hatte, vom Platz gestellt. Für
das Finale gegen die Tschechoslowakei wäre er damit eigentlich gesperrt
gewesen.
Zum
Zeitpunkt der Berufungsverhandlung befand sich der französische
Schiedsrichterassistent jedoch schon wieder zuhause, und der Schiedsrichter
konnte nur wiederholen, dass er das Foul nicht gesehen habe. Die Sperre gegen
Garrincha wurde daraufhin aufgehoben. Brasilien konnte das Finale also in
Bestbesetzung bestreiten und sicherte sich mit einem ungefährdeten 3:1-Sieg den
zweiten WM-Titel. Nach dem Schlusspfiff stürmte Elza Soares in einem
grün-gelben Kleid in die Duschen der Umkleidekabine und bedeckte Garrincha
inmitten seiner nackten Mitspieler mit Küssen.
Die
Weltmeisterschaft 1962 in Chile gilt als die WM Garrinchas. Er befand sich auf
seinem Karrierehöhepunkt. Nach der Rückkehr nach Rio de Janeiro spielte er eine
brillante Saison in der Stadtmeisterschaft von Rio de Janeiro. Das Finale gegen
Flamengo gilt als das beste Spiel seiner Laufbahn und läutete zugleich das Ende
seiner Karriere ein. Die krummen Beine belasteten die Knie zu sehr und er
musste operiert werden. Anschließend fand er nie mehr zu alter Form zurück.
Gleichzeitig
wuchsen seine Probleme außerhalb des Spielfeldes. Noch heute gilt Garrincha in
Brasilien als das Schmuddelkind des Fußballs und wird eher kritisch beurteilt,
ja oft sogar in den Bestenlisten vergessen. Mit seiner naiven und unbekümmerten
Art verkörpert er die ungebildete und instinktgetriebene Seite Brasiliens, die
von Lyra so kritisiert wurde. Seine Frauenaffären, besonders die mit Elza
Soares, wurden ihm zum Verhängnis. Nach dem Militärputsch 1964 wurde das Paar
vom Geheimdienst beobachtet, später durchsuchte man sogar ihr Haus. 1970 sahen
sich beide gezwungen, zwei Jahre in Rom zu verbringen, um dem Rummel zu
entfliehen.
Dazu
kam Garrinchas Alkoholismus-Krankheit, mit der er quasi aufgewachsen war, denn
seine Eltern gaben ihren Kindern Schnuller, die mit Honig und Schnaps gefüllt
waren. Nach einem von Garrincha verschuldeten Autounfall, bei dem Elzas Mutter
starb, fiel er in Depression. An Fußballspielen war nicht mehr zu denken. In
den frühen 1980er Jahren wurde er mehrfach volltrunken auf der Straße gefunden
und verstarb am 20. Januar 1983 nach einer letzten durchzechten Nacht.
Damit
verfügte das Leben Garrinchas über sämtliche Elemente, die ihn als exotischen
Vertreter des südamerikanischen Fußballs interessant machen. Diese
Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn mag für Europäer attraktiv sein, für
Brasilianer ist sie Ausdruck von Unprofessionalität und Unsportlichkeit und
wird als primitiv abgelehnt. Garrincha wurde für seine Landsleute zu einem
neuen Barbosa. Ein Mann, der vom Ruhm in die Asche gefallen ist.