Seiten

Donnerstag, 20. Juni 2013

Proteste in Brasilien


In meinem Buch „Brasilien – Land des Fußballs“ gehe ich im Kapitel „Die olympische Stadt“ auf die wachsende Anzahl sozialer Konflikte und die damit verbundenen Vorwürfe der Korruption ein. Es scheint so, dass sich diese Konflikte jetzt zum Confed Cup stärker zugespitzt haben, als ich selber angenommen habe. Selbst deutsche Medien haben schon ausführlich über die Vorgänge berichtet.
Warum hat mich das Ausmaß überrascht? Schon seit 2004 gibt es in Rio eine Bürgervereinigung, die sich damals „Sozialkomitee des Pan“ (SKP), in Anlehnung an das Organisationskomitee der Panamerikanischen Spiele 2007, nannte. Schon damals wurde viel Geld investiert, schon damals wurden zweifelhafte Public-Private-Partnerships durchgeführt, schon damals gab es Zwangsräumungen bestimmter Armenviertel. Trotzdem erfuhr das SKP nur sehr wenig Zulauf und seine Demonstrationen wurden praktisch nicht wahrgenommen.
Dieser geringe Erfolg des SKP führte dazu, dass als Rio zur Olympiastadt ernannt wurde, mehrere Konkurrenzvereinigungen gegründet wurden. Die einen etwas bürgerlicher, die anderen eher am linken Rand des politischen Spektrums. Keine hatte wirklich Erfolg, bis sie sich zum Volkskomitee Rio WM und Olympia zusammenschlossen (http://comitepopulario.wordpress.com/, VKR). Dem VKR wurde von der breiten Öffentlichkeit als eine Gruppe linksradikaler Spinner gesehen. Trotzdem gewannen sie in den letzten Monaten mehr Aufmerksamkeit, besonders bei den Protesten gegen das Abreißen des Indianermuseums und der kleineren Stadien rund um das Maracanã. In Erinnerung ist auch der Protest bei der öffentlichen Sitzung des Landtags von Rio de Janeiro, bei dem über die Ausschreibung zur Vergabe des Maracanãs entschieden werden sollte.


Diese Aktionen konnten nicht nur die Aufmerksamkeit der lokalen Presse, sondern auch der internationalen Medien, die inzwischen in Rio waren auf sich lenken. Außerdem unterstützte das VKR bei der Bürgermeisterwahl in Rio im Oktober 2012 den Kandidaten Marcelo Freixo (Partei PSOL), der etwa 1.000.000 Stimmen, also etwa 30%, gewinnen konnte. Die PSOL ist eine kleine, relativ unbedeutende linksgerichtete Partei, die nun mit ihrer Kritik zu den Sportgroßereignissen plötzlich einen Kandidaten auf den zweiten Platz bei der Bürgermeisterwahl, in Brasiliens zweitwichtigster Stadt, bringen konnte. Ein Riesenerfolg.
Ich denke, dass waren entscheidende Momente für die Protestbewegung: die internationale Medienaufmerksamkeit und der Wahlerfolg Freixos. Dann kam in Rio und São Paulo die Bustariferhöhung nur zwei Wochen vor dem Confed Cup. Gerade in führte so eine Erhöhung schon in der Vergangenheit zu Protesten, auch oft zu Gewalttaten. Somit ist dieser Protest nicht sehr überraschend, aber, dass er dann auf das ganze Land überschwappen konnte ist neu.
Ich war beim Eröffnungsspiel in Brasilia, das zum Anlass genommen wurde, um für bessere Bildung, bessere Krankenversorgung und ein besseres Transportsystem zu demonstrieren. Die Demonstranten die ich beobachten konnte, würde ich als junge Studenten der Mittelklasse, mit Nähe zu linksgerichteten Parteien, einstufen. Ich sah besonders Fahnen der PSTU, eine dieser Parteien. So können wir auf keinen Fall vom breiten Volk sprechen. Ich konnte weder Arbeitervertreter, noch Repräsentanten der rechten Oppositionsparteien PSDB oder DEM erkennen.   
Den Demonstranten fehlte also noch der breite Rückhalt. Das ist wohl auch ein Grund, warum die Polizei im Laufe der ersten Proteste in Rio, São Paulo und Brasilia ziemlich brutal gegen die Demonstranten vorging. Sie wurden als Ausnahmeerscheinung und linke Randalierer wahrgenommen. Zum anderen habe ich aber auch mit Demonstranten gesprochen, die schon am frühen Nachmittag erklärten, sie würden versuchen ins Stadion einzudringen. Ich dachte mir „Das wird nicht gut gehen.“ Es ging nicht gut: Tränengas und Schlagstöcke waren die Konsequenz.


Aber dann passierte etwas, aus meiner Sicht, Entscheidendes für die Protestbewegung. Zur selben Zeit, bei der Eröffnung, wurde die Präsidentin Dilma Rousseff (der gemäßigten Linken PT) ausgebuht. Ganz Brasilien konnte diesen Protest sehen. Im Stadion waren nicht die Vertreter der Gewerkschaften oder linksradikaler Studentenparteien, sondern die wohlhabenden Wähler der Parteien PSDB und DEM aus der Bürgerschicht. Ich denke, dass war der Moment, an dem die Staatsgewalt ihre Autorität verloren hat und die Demonstranten auf der Straße immens an Legitimität gewannen. Der Protest schwappte aufs ganze Land über.
Die internationale Presse brauchte noch etwas Zeit, um zu entscheiden, ob es sich bei den Protesten um eine Einzelaktion handelte oder etwas Dauerhaftes. Am Sonntag und Montag gab es Demonstrationen in Rio, São Paulo, Belo Horizonte und Brasilia. Insgesamt waren mehr als 200.000 Menschen auf der Straße, denen es fast gelang die Parlamente in diesen Städten zu erstürmen. In Brasilia tanzten sie auf dem Dach des Nationalparlaments. Ab Dienstag gab es dann Demonstrationen in allen größeren Städten. In den Cup-Spielorten ging man jetzt dazu über sich so zu organisieren, so dass immer zu Spieltagen ein großer Marsch organisiert wurde.
Gestern habe ich die Nachrichten in verschiedenen TV-Kanälen verfolgt. Der Druck wurde so groß, dass selbst der Regierungsnahe Sender Globo sich nicht nur mit dem Thema beschäftigen musste, sondern auch die Demonstranten nicht einfach als linke Randalierer abstempeln konnte. Es wurde eine renommierte Professorin einer Uni Rio de Janeiros eingeladen, die sich sichtlich über die Vorgänge freute. Konkurrenzkanäle hatten die Demonstrationen schon längst entdeckt. Sie zeigten eine weiße, gut gekleidete Frau mittleren Alters, die wegen den Protesten in São Paulo im Stau stand. „Kommen sie zu spät zur Arbeit?“ „Ja, aber das macht nichts. Die Proteste sind wichtig. Ich unterstütze sie“, antwortete sie lachend. Symbolisch war so der Schulterschluss zwischen konservativem Bürgertum und progressiv-intellektuellen Linken gemacht. Die Proteste waren in einer neuen Phase angekommen.
Somit wird klar, dass es keine einheitliche Protestbewegung gibt. Da wäre manch einer wahrscheinlich erstaunt, wenn er erfahren würde, für was der andere so steht. Deutlich wird das auch an den Diskussionen, die ich mit meinen Bekannten am Montag in Belo Horizonte geführt habe.


Nach dem Spiel traf ich Marina, Silvio und Priscilla von der Uni UFMG. Wir werden von der Polizei gezwungen einen bestimmten Weg zu nehmen, der „Fanwalk“ genannt wird. Kurz vor der Avenida Antonio Carlos gehen wir in eine Kneipe. Wir bestellen ein Bier, als wir plötzlich bemerken, wie Hunderte von Polizisten zu Kreuzung abgezogen werden. Ich habe mir das natürlich angeschaut. An der Kreuzung kam es zum Aufeinandertreffen der Demonstranten und der Polizei. Als dann aber Tränengas versprüht wurde, haben die Besitzer der Bar die Nerven verloren und die Türen verrammelt. Wir waren dann drinnen gesessen. Der Dampf des Tränengases kam trotzdem durch die Ritzen rein. 
Wir tranken weiter gemütlich unser Bier. Die Brasilianer haben einfach keine Hooliganerfahrung. Irgendwann wurden die Türen wieder geöffnet, um endlich die Luft zirkulieren zu lassen. Dann begannen wir zu diskutieren.
Marina sagte: „Ich habe mehrere Blickwinkel. Zum einen halte ich die Proteste für berechtigt. Zum anderen halte ich sie für gefährlich, da sie politisch genutzt werden können, von Leuten, die ich eher nicht in der Politik sehen will. Außerdem denke ich mir: Lass die Demonstranten vorbeiziehen und es wird nichts passieren.“ 
Silvio ergänzte: „Leider haben politische Vereinigungen in Brasilien die Ideologien vernachlässigt, um ganz pragmatisch Wahlen zu gewinnen. Das ist bei diesen Demonstrationen auch der Fall.“ 
Darauf Marina: „Ich habe Angst, dass die politische Rechte sagen wird: ihr die PT, die politische Linke, die jetzt mit Dilma an der Regierung ist, ward nicht in der Lage, die WM zu organisieren.“ 
Wir zahlen. Marina wohnt gleich gegenüber. Marinas Eltern haben natürlich auch mitbekommen, was passiert ist. Als wir ankommen beginnen Marina und ihr Papa Geraldo zu diskutieren. „Demokratie heißt auch Grenzen zu respektieren. Diese Demonstranten respektieren nichts. Sie müssen in ihre Schranken gewiesen werden.“, so Geraldo.


Darauf Marina: „Aber die Demonstranten sind doch hier nicht die Starken. Wer sich hier mit Gewalt durchsetzen will ist die Polizei. Sie brauchen Grenzen.“ Geraldo ist ein alter Kämpfer von den Gewerkschaften und jetzt wahrscheinlich froh, dass die PT an der Macht ist. Er merkt wohl kaum, dass er sehr konservative Meinungen formuliert. 
Man sieht also, dass es nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch unter den Demonstranten ganz verschieden Sichtweisen gibt. Ein wichtiger Punkt ist sicherlich der Fall „Feliciano“ aus dem Jahr 2012. Feliciano ist Parlamentsabgeordneter und wurde als solcher zum Präsidenten der „Ethikkommission“ gewählt. Das wäre nichts besonderes, wenn Feliciano nicht ein Pastor einer radikalen, evangelikalischen Religionsgruppe wäre und er in dieser Funktion sich schon mehrfach aggressiv gegen die Homoehe geäußert hat. Wie sollte so jemand eine Ethikkommission anführen?
Es kam zu wütenden Protesten, nicht auf der Straße, aber durch Leserbriefe. Trotzdem wurde Feliciano in seinem Amt bestätigt. Damit war für viele Bürger klar, dass im Parlament sehr Bürgerferne Entscheidungen getroffen werden. Der Vorgang wurde als undemokratisch und autoritär wahrgenommen und ist jetzt eins der Themen der Demonstranten.
Ein anderes Thema ist die PEC 37. Die Abkürzung steht für den Antrag auf eine Verfassungsänderung. Es sollen den Staatsanwälten investigative Befugnisse entnommen werden und der Polizei übertragen werden. Ich fühle mich nicht in der Lage diesen Gesetzesvorschlag zu beurteilen, aber in der Bevölkerung Brasiliens wurde er als Beschneidung von Bürgerrechten verstanden.
Schließlich gab es letztes Jahr noch den „Mensalão“-Prozess. In der ersten Regierung Lula wurde aufgedeckt, dass mehrere Parlamentier von der Regierung Geld bekamen, um mit ihr zu stimmen. Sie wurden letztes Jahr verurteilt. Bis heute ist aber niemand im Gefängnis.
Gestern bin ich dann durch die Altstadt Salvadors geschlendert. Plötzlich höre ich, wie zwei Herren mittleren Alters bei ihrem Bier auf dem Gehsteig über die Demonstrationen sprechen. Ich mische mich in das Gespräch ein. Einer sagt mir: „Natürlich ist es eine Frechheit, dass so viel Geld für die WM ausgegeben wird und wir haben keine Schulen, keine Krankenhäuser und kein Transportsystem. Jetzt wollen sie mir auch noch befehlen, wo ich entlang gehen kann. Ich wohne neben dem Fonte Nova Stadion und mehrere Straßen sind seit heute gesperrt.“
Das scheint mir wichtig zu sein. Die Brasilianer lieben Fußball und wollen die WM. Aber sie wollen sie selber ausrichten, nach eigenen Vorstellungen und natürlich Zugang haben. Die rigiden Forderungen der FIFA werden als Angriff auf die nationale Souveränität verstanden. Das ist ähnlich, wie der Verdacht, dass Nike und/oder Frankreich die WM 1998  manipuliert haben könnten. Dieser Glaube existiert in Brasilien und lässt die Emotionen hoch schlagen.


Dann frage ich ihn, ob er zu den Demonstrationen gehen wird. „Nein. Das sind doch nur Randalierer, die zerstören wollen. Das mache ich nicht.“ Die Aussage verwundert mich nicht, denn analysiert man dies Themen des Protests, so muss man sagen, dass es sich um Themen der Mittelklasse handelt: Krankenhäuser, Universitäten, Staatsanwaltschaft. Wer arbeitet hier? Genau, die jungen intellektuellen Demonstranten der Mittelschicht machen sich Hoffnungen auf diese Arbeitsstellen. Der Pastor Feliciano und seine evangelikale Kirche ist ebenso ein Vertreter der Unterschicht und wird so ein Zielobjekt der Demonstranten.
Den Demonstranten geht es freilich nicht darum das brasilianische Politiksystem zu stürzen. Es wird in europäischen Medien oft von einem „brasilianischen Frühling“ gesprochen. Das halte ich für falsch. Die Brasilianer lieben ihre Demokratie und wollen sie nicht ändern. Aber sie wollen mehr Mitspracherecht und wollen auf keinen Fall eine ausländische Einmischung, wie von der FIFA.
Heute war ich auf der Demonstration in Salvador auf dem Platz Campo Grande. Von dort führt eine Straße zur Fonte Nova hinunter. Es waren tausende Demonstranten, die sich da in Richtung Stadion in Bewegung setzten. Ich ging etwas mit ihnen und fotografierte die Plakate. Ich sah nur lachende, friedlich, junge Gesichter. Viele Mädchen. „Nicht gerade Prototypen von Rabauken.“, dachte ich mir. Es kamen immer neue Leute dazu. 


 Nach etwa 30 Minuten beschloss ich ein Taxi zu nehmen und die Demonstration zu umfahren. Als ich am Stadion ankam war die Vorhut der Demonstration schon angekommen und wurde von der Polizei etwa einen Kilometer vor dem Stadion aufgehalten. Ich gehe in die Mitte der Menge. Die Situation ist friedlich und ruhig. Ich unterhalte mich mit ein paar Demonstranten. Plötzlich geht die Menge 10 Meter nach vorne. Sofort beginnt die Polizei Tränengaspatronen zu schießen. Die Menge rennt auseinander. Mir bleibt auch nichts anders übrig als das gleiche zu tun.
Von da an kippt die Stimmung. Die Menge versucht immer wieder näher an das Stadion zu kommen, aber die Polizei dringt mit Pferden und Schildern voran. Alles was den Namen FIFA trägt wird heruntergerissen und zerstört. Ich sehe, wie Demonstranten einen Bus anhalten. „Der wird noch brennen denke ich.“ Später erfahre ich von meinem Kollegen Reinhard, dass es tatsächlich einen brennenden Bus auf dem Platz gibt. Irgendwann schaffe ich es doch, wie durch ein Wunder durch die Polizeikette zu kommen und den Weg in Richtung Stadion fortzusetzen. Hinter der Polizeikette sehe ich mehrere Kamerateams, die sich heulend das Gas aus den Augen waschen. „So kommt hier heute kein Fan zum Stadion“, denke ich mir.


Insgesamt fand ich die Polizeireaktion völlig übertrieben und unangebracht. So war das auch schon bei anderen Demos. Was genau wollen sie verteidigen? Und vor wem? Es muss den Demonstranten doch so vorkommen, dass die Polizei die FIFA-Party in Brasilien schützt und Brasilianer dazu nicht eingeladen sind. Ja, sie werden sogar explizit ausgesperrt. Deeskalation sieht anders aus.

Inzwischen wurden die Bustarife in einigen Städten wieder gesenkt. Das war auch die einfachste Maßnahme für die Politiker. Es scheint so, dass der Gesetzesvorschlag PEC 37 auch nicht mehr abgestimmt wird. Nächstes Jahr im September wird es in Brasilien Präsidentschaftswahlen geben. Die Regierung spürt schon jetzt den Druck von Links und von Rechts. Die WM nächstes Jahr ist die nächste große Bühne für Proteste. Ein Ende ist wohl vorerst nicht in Sicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen