Gestern spielte
Brasilien ein Freundschaftsspiel gegen Italien, das 2:2 endete. Diese
Spielpaarung wird natürlich immer an die WM-Finalspiele 1970 und 1994 erinnern.
Ich nehme das zum Anlass, erneut eine
der berühmtesten Chroniken von Nelson Rodrigues zu übersetzen und zwar die, die
am Tag nach dem Finale 1970 veröffentlicht wurde. Es handelt sich schon um eine
sehr reife Phase von Nelson, in der er alle seine stilistischen Elemente
bereits entwickelt hatte. In der Chronik sehen wir die typischen
Verdreifachungen, die Tiermetapher und die Referenzen an klassische Themen, wie
Napoleon, die den sogenannten Neobarock von Nelson ausmachen. Ich weiß nicht,
ob es sich, um eine der besten Chroniken handelt, der Text gewinnt seine
Bedeutung vielmehr aus dem historischen Kontext, auf den er sich bezieht.
Für deutsche
oder andere europäische Leser ist die Chronik wahrscheinlich erschreckend
nationalistisch. Ich denke, man muss da etwas darüber hinweg sehen, denn Nelson
wollte sicherlich nicht bierernst genommen werden und den Fußball eher fühlen,
statt nüchtern analysieren. Natürlich trifft er mit seiner Beschreibung den
Kern des brasilianischen Minderwertigkeitskomplexes, den er belächelt.
Einige
Erklärungen:
-
Der
Präsident war der Diktator General Médici.
-
Walther
Moreira Salles ist der Besitzer einer Bank.
-
Vadinho
Dolabela war ein Vertreter der Schickeria Rio de Janeiros.
-
Und das
Finale 1938 war natürlich Italien x Ungarn und nicht Deutschland x Italien, wie
Nelson fälschlicherweise annimmt.
Viel Spaß mit
der Chronik:
Freunde, das war der schönste Sieg aller Zeiten im
Weltfußball. Diesmal gibt es keine Entschuldigung, keinen Zweifel und keinen
Trugschluss. Seit dem Paradies gab es keinen Fußball mehr, wie den unsren. Ihr
erinnert euch, was unsere „Versteher“ über die europäischen Stars gesagt haben.
Es war, als ob wir nur Holzfüße oder Fischköpfe wären. Wenn Napoleon die
Buhrufe erlitten hätte, die unser Team gegeißelt haben, dann hätte er nicht
einmal eine Schlacht mit Zinnsoldaten gewonnen.
Es war leichter eine Giraffe, als einen Optimisten
in unseren Redaktionen zu finden. Der Optimist wurde wie ein geistig
Beschränkter gesehen und bewertet. Als das Team hier abreiste, heulten die
Hyänen, die Geier und die Schakale: - „Sie kommen nicht über das Viertelfinale
hinaus!“ Es wurde eine Pessimismus-Kampagne angekurbelt. Und die „Versteher“
rieten: „Bescheidenheit, Bescheidenheit!“. Als ob der Brasilianer ein armer
Teufel ohne Mutter und Vater wäre. Ich kann mich daran erinnern, als João
Saldanha zum Nationaltrainer berufen wurde. Wir hatten eine Unterredung auf
offenem Gelände. Und João sagte zu mir: - „Wir werden auf jeden Fall gewinnen!
Der Pott gehört uns!“.
Die Wenigsten glaubten an Brasilien. Einer war der
Präsident, der zu mir sagte: - „Wir werden gewinnen, wir werden gewinnen“ – und
noch am Samstag gab er seinen Tip für das Finale ab: - „Brasilien, 4:1“. Aber
die „Versteher“ schwuren, dass der brasilianische Fußball 30 Jahre Rückstand
hätte. Und die berühmte europäische Geschwindigkeit? Diese Geschwindigkeit
existierte unter ihnen und für sie. Aber Brasilien hat gegen Alle im
Spaziergang, einfach im Spaziergang, gewonnen. Mit unserer genialen
Langwierigkeit haben wir die dumme Geschwindigkeit unser Gegner begraben.
Ich habe immer geschrieben (Gott sei Dank verstehe
ich nichts vom Fußball), aber ich habe geschrieben, dass das Finale von 1966
Antifußball, ja ich wiederhole, ein fürchterliches Gebolze, war. Aber wehe,
wehe uns. Die „Versteher“, wenn sie nur von England oder Deutschland sprachen,
dann sabberten sie schon in die Krawatte. Sie wollten die Genialität, die
Magie, die Schönheit unseres Fußballs unterbinden. Aber, ohne es zu wollen,
leisteten die „Versteher“ mit ihrem Schwachsinn und ihrer Unfähigkeit einen
großen Dienst, denn sie ließen die Schnurrhaare unseres Teams wachsamer sein,
als die Borsten des Wildschweins.
Kurios ist, dass die „Nicht-Versteher” an die
Nationalmannschaft glaubten. Zum Beispiel: - Walther Moreira Salles. Er hat die
Leitung einer Bewegung übernommen, die das Team finanziell unterstützt hat. Es
hat nicht an Leuten gefehlt, die ihm sagten: - „Tu das nicht. Das ist eine
Gurkentruppe.“ Aber kurios ist, dass Walther Moreira Salles in keinem Moment
sein Vertrauen in die Nationalmannschaft verlor. Oft hat er mir gesagt: - „Ich
weiß, dass wir gewinnen werden“.
Ich unterbreche das Schreiben, um ans Telefon zu
gehen. Es ist Vadinho Dolabela, der letzte Bohemien, der letzte Romantiker
Brasiliens. Er weint am Telefon: - „Nelson, wir haben gewonnen, Nelson! Der
Pott gehört uns!“ Dass er uns gehören würde steht schon seit 6.000 Jahren fest.
Noch nie hat eine Nationalmannschaft ein so perfektes Turnier gespielt, wie
Brasilien 1970. Wir haben alle Pseudokobras besiegt. Alle Finale sind
schwierig. Deutschland x Italien 1938 benötigte der Verlängerung. Als das Spiel
vorbei war, legten sich die Spieler mehr tot als lebendig auf den Boden.
Deutschland x England, erneut Verlängerung, sowohl 1966, als auch 1970.
Brasilien hat keine Minute zusätzlich benötigt.
Gestern war es ein Spaziergang für uns. Das Tor für
Italien, das franziskanische Tor Italiens, haben nicht die Italiener erzielt.
Es war eine Spielerei von Clodoaldo. Dieser geachtete Dribbler aus Sergipe,
400-jährig, beschloss einen Absatzkick zu machen. So erhielt der Feind den Pass
und das Tor als Geschenk, umsonst. Im Gegensatz dazu waren die brasilianischen
Tore unveränderbare und ewige Kunstwerke. Der Kopfball von Pelé, zum ersten
Zwischenstand, war etwas Überraschendes. Er stieg leicht auf, fast beflügelt,
und versenkte den Ball im Eck.
Zusammengefasst: Jedes Tor der Unsrigen war ein
Schatz. Schon am Vorabend erklärten die größten Autoritäten des Fußballs
einstimmig, dass Brasilien das Spiel gewinnen müsse, weil es besser wäre. Das
war das schreiend Offensichtliche, das die Welt erkannte, nur nicht die
„Versteher“ hier. Bevor ich es vergesse, muss ich noch das Bewiesene
beobachten: - Wir haben gewonnen und dabei dem Gegner ein Bad der Paulina
Bonabarte gegeben. Man sagte, dass die Italiener hervorragend wären. Sie haben
4 x 1 gegen uns verloren und es hätte 4 x 0 ausgehen müssen. Oder besser: nicht
4 x 0, sonder 5 x 0 und ich erkläre es: - als Rivelino in der letzten Minute
die ganze Mannschaft ausdribbelte, in den Strafraum kam und mit Ball und Körper
ins Tor gekommen wäre, erlitt er den zynischsten, den offensichtlichsten
Elfmeter. Es war ein sicheres Tor. Doch wir mussten auch noch gegen einen
bösartigen Schiedsrichter antreten.
Freunde, ewiger Ruhm für den dreifachen Weltmeister.
Dank sei dem Team, denn jetzt müssen die Brasilianer sich nicht mehr schämen
Patrioten zu sein. Wir sind 90 Millionen Brasilianer, mit Sporen und Kamm, wie
die Drachen des Pedro Américo.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen