Als ich am Wochenende in Brasilia ankam bemerkte
ich, dass auf dem Rasen vor dem Nationalkongress etwa hunderte Zelte
aufgeschlagen waren. Seit dem Protestcampen in Spanien ist das eine beliebte
Form, um gegen Missstände zu protestieren. Auch in Brasilien wurde diese Art
der Demonstration schon in mehreren Städten praktiziert.
Sonntag in der früh hatte ich etwas Zeit und
beschloss die Demonstration zu besuchen. Insgesamt sah die Zeltstadt eher leer
aus, fast wie die Installation irgendeines Action-Künstlers. Am Straßenrand
waren mehrere Spruchbänder befestigt, die, wie gewohnt, eine weite Bandbreite
an Forderungen versammelten. Mitten in der Zeltstadt fand ich eine Art
Zentrale, in der sich vier junge Demonstranten aufhielten, mit denen ich ein
Gespräch begann.
An dem
Gespräch nahmen drei der Anwesenden Teil, die von mir Spitznamen bekamen: der
Vernünftige, der Texaner und der Punk.
„Warum seid ihr hier?“
„Wir wollen gegen die Korruption und für eine Reform
des politischen Systems protestieren.“, antwortet mir der Vernünftige.
„Welcher Gruppe gehört ihr an?“
„Keiner. Wir lehnen Parteien ab, denn sie sind
korrupt und Schuld an der politischen Misere Brasiliens. Wir möchten hier
einfach Forderungen und Bedürfnisse sammeln und ihnen zu Gehör verhelfen.“,
fährt der Vernünftige fort.
Da schaltet sich der Texaner ein: „Ich bin hier
einfach als Vertreter des Volkes. Deshalb gehöre ich keiner Partei an.“
Damit setzt
sich die unstrukturierte Form der Protestbewegung fort. Es gibt ein allgemeines
und diffuses Gefühl der Unzufriedenheit, mit dem eine Opposition aus
Parteipolitikern, die alle korrupt wären, und dem allgemeinen Volk kreiert
wird. Diese Unzufriedenheit kann ganz verschiedene Gründe haben: Transport oder
Gesundheitssystem oder eben die politische Struktur. Die Ablehnung von
Parteien, da es angeblich einen allgemein bekannten Volkswillen gibt, den diese
Parteien ignorieren, führt dazu, dass sich jemand, der nie einen Wahlkampf
geführt hat, als legitimer Volksrepräsentant fühlt, wie es der Texaner tat. Er
würde das Volk eher vertreten, als ein Politiker, der tausende von Stimmen
bekommen hat.
Ich frage weiter, seit wann sie hier campieren.
Der
Vernünftige antwortet: „Seit 5. Juli. [also nach dem Confed Cup] Damals begann
ein Protest der Gefängniswärter. Ihnen wurde verboten im Privatleben Waffen zu
tragen. Sie fürchten nun, um ihr Leben. Deswegen begannen sie hier ihre Zelte
aufzuschlagen. Wir haben uns dann angehängt. Wir planen bis zum 7. September,
dem Nationalfeiertag, hier zu bleiben. Dann soll es riesige Demos in ganz
Brasilien geben.“
Dazu der Texaner: „1822 war der 7. September der Tag
der Unabhängigkeit von Portugal. 2013 soll es der Tag der Unabhängigkeit von
der Korruption werden.“
Der Vernünftige nutzt die Gelegenheit und beginnt
mich über meine Meinung als Ausländer auszufragen. „Was hältst du von den
Demonstrationen? Gibt es in Deutschland auch so viel Korruption? Welches
politisches System bevorzugst du?“
Ich kann jetzt nicht die ganze Diskussion
wiedergeben, aber ich habe in erster Linie angemerkt, dass ich mir ein
politisches System ohne Parteien nicht vorstellen kann. Es muss, aus meiner
Sicht, in irgendeiner Art Institutionen geben, die Meinungen bilden und
zusammenfassen, um sie dann effektiv vertreten zu können. Diese Institutionen
nennen wir Parteien. Dem haben meine Gesprächspartner dann auch nicht weiter
widersprochen. „Man muss aber Mittel finden, um diese Parteien besser zu
kontrollieren und so die Korruption zu vermeiden.“, erwiderte der Vernünftige.
In diesem Moment schaltete sich der Punk ein, der
mich wegen meiner Parteienfreundlichkeit zur Rede stellen wollte. Seine
Argumentation war ein konfuses Gemenge aus Jesse Owens, Hitler, der
brasilianischen Militärdiktatur, bis hin zu Romario. Wichtiger als seine Argumentation
erschien mir, dass sich die anderen Gesprächspartner zurückzogen, als er das
Wort ergriff. Sie wollten scheinbar nichts mit ihm zu tun haben. Es wurde
deutlich, dass es Gruppen und Gegensätze, selbst in einer so kleinen
Demonstrantengruppe gibt.
Mir gelang es mich des Punk zu entledigen und mein
Gespräch mit den anderen fortzusetzen. Diese diskutierten gerade über ein
Gesetzesprojekt, das vorsieht, das strafmündige Alter in Brasilien auf 12 Jahre
herabzusetzen. Der Vernünftige war scheinbar dagegen, aber der Texaner
verteidigte engagiert die Verabschiedung eines solchen Gesetzes: „Was hält
jemanden davon ab, ein Verbrechen durchzuführen? Angst. Unsere Jugend hat keine
Angst, denn es kann ihr bei so laschen Gesetzen nichts passieren. Sie muss Angst
haben. Deswegen brauchen wir härtere Gesetze. Ich sage nicht, dass sie ins
Gefängnis sollten. Man müsste Jugendanstalten bauen, in denen sie etwas lernen
können.“
Die Argumentation ist unglaublich, denn sie kommt
aus dem Mund eines etwa 30-jährigen, der bis vor kurzem selbst noch der Jugend
angehört hat, die er jetzt so brandmarkt. Insgesamt zeigt er eine sehr
konservative „Law and Order“-Weltanschauung, wie ich sie eher einem George Bush
zuordnen würde und nicht einem zeltenden Demonstranten.
Im Übrigen: solche Jugendanstalten existieren in
Brasilien. Sie sind nur schlecht ausgerüstet. Es erscheint mir also, dass nicht
das Gesetz mangelhaft ist, sondern die Infrastruktur und das Equipment.
Aber der Texaner ging noch weiter:
„Deswegen unterstütze ich auch die Gefängniswärter.
Sie leben oft jahrelang mit den Gefängnisinsassen, die sich ihre Gesichter
einprägen können. Stell die vor, dass so ein Krimineller nach seiner Haft in
die Nachbarschaft des Gefängniswärters zieht. Wie soll der denn dann seine
Familie gegen diesen Kriminellen schützen?“
Das ist genau die Argumentation, die immer wieder
Anti-Waffen-Gesetze in den USA verhindert. Das Individuum hätte einen Anspruch
auf Selbstverteidigung. Deswegen habe ich ihn „den Texaner“ getauft. Ich
beschloss nicht weiter auf die Diskussionen einzugehen und wieder ins Hotel
zurückzugehen. Aber vorher machte ich noch ein paar Fotos von den Spruchbändern
der Gefängniswärter. Sie hatten auch einige Kreuze aufgestellt, um ermordeter
Kollegen zu gedenken.
Ich möchte zum Schluss noch einige Anmerkungen zu
den Gesprächen mit den Demonstranten anbringen:
1.
Es handelt sich auf keinen Fall um eine
homogene Protestbewegung, die an einem Strang zieht. Es ist vielmehr
wahrscheinlich, dass die Demonstranten teilweise sehr gegensätzliche Ansätze
vertreten. In diesem Falle: liberale Studenten verbünden sich mit
Repressionskräften (Gefängniswärtern).
2.
Die Demonstrationen werden sich noch
hinziehen. Sie werden sicherlich schwerwiegende Auswirkungen auf die
Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr im Herbst haben.
3.
Den Demonstrationen liegt der Glaube
daran zu Grunde, dass es zum einen tatsächlich einen einheitlichen Volkswille
gebe und dass zum anderen nachgewiesen sei, dass alle Politiker korrupt sind.
Der Glaube in die Korruption ist wichtig für die Demonstranten. [Weder für den
Volkswillen, noch für die Korruption gibt es Beweise.]
4.
Einend ist auch die Ablehnung der
Parteien. Das halte ich für sehr kompliziert aufgrund zweier Beobachtungen:
A) Bei den
Demonstrationen wurden Fahnen von kleinen linksgerichteten Parteien und
Organisationen zerrissen und von den Demonstrationen ausgeschlossen. Diese
Vorgehensweise erschien mir doch sehr undemokratisch. Im Endeffekt wurde in
dieser Situation das Recht des Stärkeren ausgeübt. Das könnte mit geordneten Wahlgängen
und Diskussionen zwischen Parteien, als Interessensvertretern, eingedämmt
werden.
B) Aus
meiner Sicht ist das Problem Brasiliens nicht die Existenz der Parteien,
sondern – ganz im Gegenteil – die Schwäche der Parteien. Die Parteien sind so unbedeutend,
dass sie als reines Mittel zur Wahl genutzt werden. Mit Leichtigkeit wechseln
Politiker die Partei oder gründen einfach eine neue. Man sollte eher Maßnahmen
ergreifen, um die Parteien zu stärken, wie: 5%-Hürde, Wahlkreise, Listenwahl
und Parteientreue. Damit würde man Berufspolitiker, die eine Karriere machen,
stärken und Phänomene, wie die Wahl von Quereinsteigern, die ihre Stimmen
aufgrund ihrer Popularität als TV-Star oder Fußballspieler ergattern,
erschweren. Die Parteien wären gezwungen ein Wahlprogramm vorzustellen, was die
Transparenz erhöhen würde und so die Vorwürfe der Korruption eindämmen könnte.
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