Gestern war einer der wenigen Termine im Jahr, an
dem kein Fußballspiel auf dem Programm stand.
Stattdessen rief die Sportsekretärin des Bundeslandes Rio de Janeiro
Márcia Lins zu einer Pressekonferenz ins Maracanã. Es sollte eine Werbeaktion
gemeinsam mit einem großen Sponsor vorgestellt werden. Aber was die
Journalisten wirklich wissen wollten ist, wie und in welcher Form der Bau des
Maracanã vorangeht.
Das Thema ist gerade in dieser Woche interessant, da
heute (08.11.12) eine öffentliche Anhörung zu den Plänen der Umgestaltung der
Umgebung des Stadions stattfinden wird. Da das Maracanã eine staatliche
Einrichtung ist, ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass so eine Anhörung
durchgeführt werden muss, bevor die Ausschreibung für die Bauarbeiten vom
Bundesland gemacht werden kann. Das Gelände des Maracanã besteht nicht nur aus
einem Fußballstadion, sondern auch aus einem Leichtathletikstadion, einem
Schwimmbad, der Sporthalle Maracanazinho und der Arthur Friedenreich Grundschule.
Mehrere Interessensvertreter von Bürgerbewegungen
haben sich besorgt gezeigt, dass es sein könnte, dass geplant ist, diese
Einrichtungen abzureißen, um für die WM Parkplätze, VIP-Bereiche und
Pressegebäude zu errichten. Damit würde den Bürgern der Stadt Rio de Janeiro
nicht nur ein öffentliches Sportangebot und eine Schule, sondern auch ein
denkmalgeschützter Architekturkomplex verloren gehen. Persönlich würde ich den
Verlust der Friedenreich-Schule beklagen, da ich die Biografie des Namensgebers
(http://www.werkstatt-verlag.de/?q=9783895336461) geschrieben habe und der Meinung
bin, dass Brasilien diesen Spieler sowieso schon zu sehr vergessen hat.
Márcia Lins ging auf diese Details nicht ein und
verkündete nur, dass die Anhörung stattfinden würde. Aber in ihrer Rede spielte
eine Auseinandersetzung mit den Werten Tradition und Moderne eine wichtige
Rolle. Zunächst machte sie darauf aufmerksam, dass es eine große
Herausforderung sei ein Stadion mit all seiner Infrastruktur WM-tauglich zu
machen. Es wäre eine große Leistung, dass das Maracanã neben dem
Azteken-Stadion in Mexiko das einzige ist, das zwei WM-Finale ausrichten wird.
Dafür wurde viel investiert und am 28.02.2013 soll termingerecht das modernste
Stadion der Welt übergeben werden. Modern heißt für sie nicht nur, dass die
Tribünen komplett neu errichtet wurden, sondern dass auch auf ökologisch
korrekte Nachhaltigkeit geachtet wurde: es wurde mit wiederverwertbarem
Material gearbeitet, der Stromverbrauch konnte gesenkt werden und es wird
Regenwasser aufgefangen werden.
Wichtig war in den Augen der Sekretärin, dass das
Verhalten der Fußballfans in den letzten Jahren geändert wurde. Diese würden
jetzt Sitzplätze respektieren und die Sitzschalen nichtmehr zerstören. Das wäre
der Erfolg von gezielten Maßnahmen der Landesregierung.
Aber trotz aller Modernisierung wäre es der
Landesregierung und dem Bauunternehmen gelungen die traditionelle Architektur
des Maracanã zu behalten. Es wäre weiterhin „Mein Maracanã, dein Maracanã,
unser Maracanã“. Da es sich um ein öffentliches Bauwerk handeln würde, das noch
dazu die zweitmeistbesuchte Sehenswürdigkeit Rio de Janeiros, nach der
Christusstatue, ist, wäre es auch gerechtfertigt, dass der Bau aus öffentlichen
Geldern finanziert wurde. Schließlich würde ja auch die französische Regierung
den Eifelturm instand halten.
Damit trifft sie einen Nerv der Brasilianer, die
Paris für die Wiege der westlichen Zivilisation und damit als Sinnbild für alles
Moderne halten. Dieser Diskurs ist sicherlich wichtig für das brasilianische
Publikum, aber in den letzten Monaten haben selbst in regierungsnahen
Presseorganen Reflektionen eingesetzt, die die aufgezwungenen FIFA-Normen
hinterfragen. Wollen wir wirklich alle beim Fußball sitzen? Ist das noch eine
brasilianische Art Fußballfan zu sein? Oder ist es eine aufgezwungene
europäische Art, von der wir uns eigentlich abgrenzen wollen? Verlieren wir
hier nicht einen Teil unserer Kultur?
Zentral erscheint mir dabei, dass das Maracanã
tatsächlich für das breite Volk gebaut wurde. Das ist der Grund, dass damals
200.000 Menschen in ihm Platz fanden, denn jeder Brasilianer sollte Zugang
haben. Die Tribünen wurden damals rund
angeordnet, damit jeder Platz im gleichen Winkel zum Rasen stand. Nach dem
Umbau wird ein neuer ovaler Grundriss für eine Hierarchisierung sorgen. Deshalb
wurden auf seinem Grundstück auch eine Schule und andere Sporteinrichtungen
gebaut. Es sollte eine Grundversorgung an Bildungs- und Sportangeboten
gesichert werden. Als ich zum ersten Mal im Jahr 2000 im Maracanã war, kostete
der Stehplatz etwa €1. Das war für jedermann erschwinglich. Aber das wird sich
ändern, denn die Preise für Fußballspiele sind schon jetzt auf mindestens €15
geschossen.
Das was Márcia Lins „Änderung des Fanverhaltens“
bezeichnet, ist in Wirklichkeit ein Ausschluss derjenigen, die singen, tanzen
und ihr Team anfeuern wollen. Ein Effekt der Stadionmodernisierung ist, dass
das Publikum ausgetauscht wird und zwar nach finanziellen Gesichtspunkten. Und
damit ist es eben nichtmehr unser aller Maracanã. Ich selbst spüre das auch,
denn es passiert immer öfter, das ich von Sicherheitskräften angesprochen
werde, warum ich denn im Stadion fotografieren würde (Als ob niemand beim
Fußball fotografieren würde!).
Heute habe ich zum Beispiel für diesen Post Fotos
gemacht und wollte dabei auch die kleineren Stadien und die Schule
fotografieren. Als ich mich auf dem Parkplatz der Schwimmhalle befand kam
wieder so ein Sicherheitsbeamter und verbat mir Fotos zu machen. Ich hielt ihm
entgegen, dass es sich um einen öffentlichen Ort handeln würde. Er erwiderte,
dass es trotzdem verboten sei Fotos zu machen. „Verstanden?“ „Nein!“ Aber es
half nichts, er begleitete mich zum Ausgang. Der Maracanã-Komplex ist wohl kein
Ort für jedermann mehr. Hier die Fotos, die ich vor der Ankunft des Wachmannes
schießen konnte:
Sicherlich waren einige bauliche Maßnahmen nötig,
denn Teile der Brüstung des Oberrangs sind schon einmal heruntergefallen. Ein
anderes Problem war, dass die Evakuierung über 30 Minuten dauerte, während nach
modernen Sicherheitsstandarts höchstens 10 Minuten erlaubt sind. Deshalb wurden
mehrere zusätzliche Rampen gebaut. Insgesamt machen die Bauarbeiten einen
positiven Eindruck. Das architektonische Projekt sieht sehr schön aus. Man darf
erwarten, dass die neue Überdachung spektakulär wird. Das Stadion wird auch sicherlich
rechtzeitig fertig. Aber der 28.02.13 scheint mir zu optimistisch. Es könnte
sein, dass bis zu diesem Zeitpunkt das Stadion an sich fertig ist, aber auf
keinen Fall die Umgebung, Zufahrtswege, Beleuchtung, Innenausstattung, Rasen
etc.
Deswegen wollte sich auch weder Márcia Lins noch der
Chef des zuständigen Bauunternehmens Ícaro Moreno auf ein Datum für die ersten
Testspiele festlegen. Es könnte sich um ein normales Ligaspiel handeln oder
aber auch ein Länderspiel. Wahrscheinlich wird aber der Confed-Cup 2013 selber
der erste ernstzunehmende Test.
1 Kommentar:
Nicht ohne Grund wird in Deutschland so vehement um den Erhalt der Stehplätze gekämpft, und das nicht nur von "Ultras". Wer vor einigen Wochen das Spiel Manchester City - Dortmund am Fernseher verfolgte, hörte über das gesamte Spiel hinweg fast ausschließlich die Anhänger der Borussia. Ein Zustand, der vor Abschaffung der Stehplätze in englischen Stadien undenkbar gewesen wäre.
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