In meinem Buch „Brasilien – Land des Fußballs“ gehe
ich im Kapitel „Die olympische Stadt“ auf die wachsende Anzahl sozialer
Konflikte und die damit verbundenen Vorwürfe der Korruption ein. Es scheint so,
dass sich diese Konflikte jetzt zum Confed Cup stärker zugespitzt haben, als
ich selber angenommen habe. Selbst deutsche Medien haben schon ausführlich über
die Vorgänge berichtet.
Warum hat mich das Ausmaß überrascht? Schon seit
2004 gibt es in Rio eine Bürgervereinigung, die sich damals „Sozialkomitee des
Pan“ (SKP), in Anlehnung an das Organisationskomitee der Panamerikanischen
Spiele 2007, nannte. Schon damals wurde viel Geld investiert, schon damals
wurden zweifelhafte Public-Private-Partnerships durchgeführt, schon damals gab
es Zwangsräumungen bestimmter Armenviertel. Trotzdem erfuhr das SKP nur sehr
wenig Zulauf und seine Demonstrationen wurden praktisch nicht wahrgenommen.
Dieser geringe Erfolg des SKP führte dazu, dass als
Rio zur Olympiastadt ernannt wurde, mehrere Konkurrenzvereinigungen gegründet
wurden. Die einen etwas bürgerlicher, die anderen eher am linken Rand des
politischen Spektrums. Keine hatte wirklich Erfolg, bis sie sich zum
Volkskomitee Rio WM und Olympia zusammenschlossen (http://comitepopulario.wordpress.com/, VKR). Dem VKR wurde von der breiten
Öffentlichkeit als eine Gruppe linksradikaler Spinner gesehen. Trotzdem
gewannen sie in den letzten Monaten mehr Aufmerksamkeit, besonders bei den
Protesten gegen das Abreißen des Indianermuseums und der kleineren Stadien rund
um das Maracanã. In Erinnerung ist auch der Protest bei der öffentlichen
Sitzung des Landtags von Rio de Janeiro, bei dem über die Ausschreibung zur
Vergabe des Maracanãs entschieden werden sollte.
Diese Aktionen konnten nicht nur die Aufmerksamkeit
der lokalen Presse, sondern auch der internationalen Medien, die inzwischen in
Rio waren auf sich lenken. Außerdem unterstützte das VKR bei der
Bürgermeisterwahl in Rio im Oktober 2012 den Kandidaten Marcelo Freixo (Partei
PSOL), der etwa 1.000.000 Stimmen, also etwa 30%, gewinnen konnte. Die PSOL ist
eine kleine, relativ unbedeutende linksgerichtete Partei, die nun mit ihrer Kritik
zu den Sportgroßereignissen plötzlich einen Kandidaten auf den zweiten Platz
bei der Bürgermeisterwahl, in Brasiliens zweitwichtigster Stadt, bringen
konnte. Ein Riesenerfolg.
Ich denke, dass waren entscheidende Momente für die
Protestbewegung: die internationale Medienaufmerksamkeit und der Wahlerfolg
Freixos. Dann kam in Rio und São Paulo die Bustariferhöhung nur zwei Wochen vor
dem Confed Cup. Gerade in führte so eine Erhöhung schon in der Vergangenheit zu
Protesten, auch oft zu Gewalttaten. Somit ist dieser Protest nicht sehr
überraschend, aber, dass er dann auf das ganze Land überschwappen konnte ist
neu.
Ich war beim Eröffnungsspiel in Brasilia, das zum
Anlass genommen wurde, um für bessere Bildung, bessere Krankenversorgung und
ein besseres Transportsystem zu demonstrieren. Die Demonstranten die ich beobachten
konnte, würde ich als junge Studenten der Mittelklasse, mit Nähe zu
linksgerichteten Parteien, einstufen. Ich sah besonders Fahnen der PSTU, eine
dieser Parteien. So können wir auf keinen Fall vom breiten Volk sprechen. Ich
konnte weder Arbeitervertreter, noch Repräsentanten der rechten Oppositionsparteien
PSDB oder DEM erkennen.
Den Demonstranten fehlte also noch der breite
Rückhalt. Das ist wohl auch ein Grund, warum die Polizei im Laufe der ersten
Proteste in Rio, São Paulo und Brasilia ziemlich brutal gegen die Demonstranten
vorging. Sie wurden als Ausnahmeerscheinung und linke Randalierer wahrgenommen.
Zum anderen habe ich aber auch mit Demonstranten gesprochen, die schon am
frühen Nachmittag erklärten, sie würden versuchen ins Stadion einzudringen. Ich
dachte mir „Das wird nicht gut gehen.“ Es ging nicht gut: Tränengas und
Schlagstöcke waren die Konsequenz.
Aber dann passierte etwas, aus meiner Sicht,
Entscheidendes für die Protestbewegung. Zur selben Zeit, bei der Eröffnung, wurde die Präsidentin Dilma Rousseff (der gemäßigten Linken PT) ausgebuht. Ganz
Brasilien konnte diesen Protest sehen. Im Stadion waren nicht die Vertreter der
Gewerkschaften oder linksradikaler Studentenparteien, sondern die wohlhabenden
Wähler der Parteien PSDB und DEM aus der Bürgerschicht. Ich denke, dass war der
Moment, an dem die Staatsgewalt ihre Autorität verloren hat und die
Demonstranten auf der Straße immens an Legitimität gewannen. Der Protest
schwappte aufs ganze Land über.
Die internationale Presse brauchte noch etwas Zeit,
um zu entscheiden, ob es sich bei den Protesten um eine Einzelaktion handelte
oder etwas Dauerhaftes. Am Sonntag und Montag gab es Demonstrationen in Rio,
São Paulo, Belo Horizonte und Brasilia. Insgesamt waren mehr als 200.000
Menschen auf der Straße, denen es fast gelang die Parlamente in diesen Städten
zu erstürmen. In Brasilia tanzten sie auf dem Dach des Nationalparlaments. Ab
Dienstag gab es dann Demonstrationen in allen größeren Städten. In den
Cup-Spielorten ging man jetzt dazu über sich so zu organisieren, so dass immer zu
Spieltagen ein großer Marsch organisiert wurde.
Gestern habe ich die Nachrichten in verschiedenen
TV-Kanälen verfolgt. Der Druck wurde so groß, dass selbst der Regierungsnahe
Sender Globo sich nicht nur mit dem Thema beschäftigen musste, sondern auch die
Demonstranten nicht einfach als linke Randalierer abstempeln konnte. Es wurde
eine renommierte Professorin einer Uni Rio de Janeiros eingeladen, die sich
sichtlich über die Vorgänge freute. Konkurrenzkanäle hatten die Demonstrationen
schon längst entdeckt. Sie zeigten eine weiße, gut gekleidete Frau mittleren
Alters, die wegen den Protesten in São Paulo im Stau stand. „Kommen sie zu spät
zur Arbeit?“ „Ja, aber das macht nichts. Die Proteste sind wichtig. Ich
unterstütze sie“, antwortete sie lachend. Symbolisch war so der Schulterschluss
zwischen konservativem Bürgertum und progressiv-intellektuellen Linken gemacht.
Die Proteste waren in einer neuen Phase angekommen.
Somit wird klar, dass es keine einheitliche
Protestbewegung gibt. Da wäre manch einer wahrscheinlich erstaunt, wenn er
erfahren würde, für was der andere so steht. Deutlich wird das auch an den
Diskussionen, die ich mit meinen Bekannten am Montag in Belo Horizonte geführt
habe.
Nach dem Spiel
traf ich Marina, Silvio und Priscilla von der Uni UFMG. Wir werden von der
Polizei gezwungen einen bestimmten Weg zu nehmen, der „Fanwalk“ genannt wird.
Kurz vor der Avenida Antonio Carlos gehen wir in eine Kneipe. Wir bestellen ein
Bier, als wir plötzlich bemerken, wie Hunderte von Polizisten zu Kreuzung abgezogen
werden. Ich habe mir das natürlich angeschaut. An der Kreuzung kam es zum
Aufeinandertreffen der Demonstranten und der Polizei. Als dann aber Tränengas
versprüht wurde, haben die Besitzer der Bar die Nerven verloren und die Türen
verrammelt. Wir waren dann drinnen gesessen. Der Dampf des Tränengases kam
trotzdem durch die Ritzen rein.
Wir tranken
weiter gemütlich unser Bier. Die Brasilianer haben einfach keine
Hooliganerfahrung. Irgendwann wurden die Türen wieder geöffnet, um endlich die
Luft zirkulieren zu lassen. Dann begannen wir zu diskutieren.
Marina sagte: „Ich
habe mehrere Blickwinkel. Zum einen halte ich die Proteste für berechtigt. Zum
anderen halte ich sie für gefährlich, da sie politisch genutzt werden können,
von Leuten, die ich eher nicht in der Politik sehen will. Außerdem denke ich
mir: Lass die Demonstranten vorbeiziehen und es wird nichts passieren.“
Silvio ergänzte:
„Leider haben politische Vereinigungen in Brasilien die Ideologien
vernachlässigt, um ganz pragmatisch Wahlen zu gewinnen. Das ist bei diesen
Demonstrationen auch der Fall.“
Darauf Marina: „Ich
habe Angst, dass die politische Rechte sagen wird: ihr die PT, die politische Linke,
die jetzt mit Dilma an der Regierung ist, ward nicht in der Lage, die WM zu
organisieren.“
Wir zahlen.
Marina wohnt gleich gegenüber. Marinas Eltern haben natürlich auch mitbekommen,
was passiert ist. Als wir ankommen beginnen Marina und ihr Papa Geraldo zu
diskutieren. „Demokratie heißt auch Grenzen zu respektieren. Diese
Demonstranten respektieren nichts. Sie müssen in ihre Schranken gewiesen
werden.“, so Geraldo.
Darauf Marina: „Aber
die Demonstranten sind doch hier nicht die Starken. Wer sich hier mit Gewalt
durchsetzen will ist die Polizei. Sie brauchen Grenzen.“ Geraldo ist ein
alter Kämpfer von den Gewerkschaften und jetzt wahrscheinlich froh, dass die PT
an der Macht ist. Er merkt wohl kaum, dass er sehr konservative Meinungen
formuliert.
Man sieht also,
dass es nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch unter den Demonstranten
ganz verschieden Sichtweisen gibt. Ein wichtiger Punkt ist sicherlich der Fall
„Feliciano“ aus dem Jahr 2012. Feliciano ist Parlamentsabgeordneter und wurde
als solcher zum Präsidenten der „Ethikkommission“ gewählt. Das wäre nichts
besonderes, wenn Feliciano nicht ein Pastor einer radikalen, evangelikalischen
Religionsgruppe wäre und er in dieser Funktion sich schon mehrfach aggressiv
gegen die Homoehe geäußert hat. Wie sollte so jemand eine Ethikkommission
anführen?
Es kam zu wütenden Protesten, nicht auf der Straße,
aber durch Leserbriefe. Trotzdem wurde Feliciano in seinem Amt bestätigt. Damit
war für viele Bürger klar, dass im Parlament sehr Bürgerferne Entscheidungen
getroffen werden. Der Vorgang wurde als undemokratisch und autoritär
wahrgenommen und ist jetzt eins der Themen der Demonstranten.
Ein anderes Thema ist die PEC 37. Die Abkürzung
steht für den Antrag auf eine Verfassungsänderung. Es sollen den Staatsanwälten
investigative Befugnisse entnommen werden und der Polizei übertragen werden.
Ich fühle mich nicht in der Lage diesen Gesetzesvorschlag zu beurteilen, aber
in der Bevölkerung Brasiliens wurde er als Beschneidung von Bürgerrechten
verstanden.
Schließlich gab es letztes Jahr noch den
„Mensalão“-Prozess. In der ersten Regierung Lula wurde aufgedeckt, dass mehrere
Parlamentier von der Regierung Geld bekamen, um mit ihr zu stimmen. Sie wurden
letztes Jahr verurteilt. Bis heute ist aber niemand im Gefängnis.
Gestern bin ich dann durch die Altstadt Salvadors
geschlendert. Plötzlich höre ich, wie zwei Herren mittleren Alters bei ihrem
Bier auf dem Gehsteig über die Demonstrationen sprechen. Ich mische mich in das
Gespräch ein. Einer sagt mir: „Natürlich ist es eine Frechheit, dass so viel
Geld für die WM ausgegeben wird und wir haben keine Schulen, keine
Krankenhäuser und kein Transportsystem. Jetzt wollen sie mir auch noch
befehlen, wo ich entlang gehen kann. Ich wohne neben dem Fonte Nova Stadion und
mehrere Straßen sind seit heute gesperrt.“
Das scheint mir wichtig zu sein. Die Brasilianer
lieben Fußball und wollen die WM. Aber sie wollen sie selber ausrichten, nach eigenen
Vorstellungen und natürlich Zugang haben. Die rigiden Forderungen der FIFA
werden als Angriff auf die nationale Souveränität verstanden. Das ist ähnlich,
wie der Verdacht, dass Nike und/oder Frankreich die WM 1998 manipuliert haben könnten. Dieser Glaube
existiert in Brasilien und lässt die Emotionen hoch schlagen.
Dann frage ich ihn, ob er zu den Demonstrationen
gehen wird. „Nein. Das sind doch nur Randalierer, die zerstören wollen. Das
mache ich nicht.“ Die Aussage verwundert mich nicht, denn analysiert man dies
Themen des Protests, so muss man sagen, dass es sich um Themen der Mittelklasse
handelt: Krankenhäuser, Universitäten, Staatsanwaltschaft. Wer arbeitet hier?
Genau, die jungen intellektuellen Demonstranten der Mittelschicht machen sich
Hoffnungen auf diese Arbeitsstellen. Der Pastor Feliciano und seine
evangelikale Kirche ist ebenso ein Vertreter der Unterschicht und wird so ein
Zielobjekt der Demonstranten.
Den Demonstranten geht es freilich nicht darum das brasilianische
Politiksystem zu stürzen. Es wird in europäischen Medien oft von einem
„brasilianischen Frühling“ gesprochen. Das halte ich für falsch. Die
Brasilianer lieben ihre Demokratie und wollen sie nicht ändern. Aber sie wollen
mehr Mitspracherecht und wollen auf keinen Fall eine ausländische Einmischung,
wie von der FIFA.
Heute war ich auf der Demonstration in Salvador auf
dem Platz Campo Grande. Von dort führt eine Straße zur Fonte Nova hinunter. Es
waren tausende Demonstranten, die sich da in Richtung Stadion in Bewegung
setzten. Ich ging etwas mit ihnen und fotografierte die Plakate. Ich sah nur
lachende, friedlich, junge Gesichter. Viele Mädchen. „Nicht gerade Prototypen
von Rabauken.“, dachte ich mir. Es kamen immer neue Leute dazu.
Nach etwa 30
Minuten beschloss ich ein Taxi zu nehmen und die Demonstration zu umfahren. Als
ich am Stadion ankam war die Vorhut der Demonstration schon angekommen und
wurde von der Polizei etwa einen Kilometer vor dem Stadion aufgehalten. Ich
gehe in die Mitte der Menge. Die Situation ist friedlich und ruhig. Ich
unterhalte mich mit ein paar Demonstranten. Plötzlich geht die Menge 10 Meter
nach vorne. Sofort beginnt die Polizei Tränengaspatronen zu schießen. Die Menge
rennt auseinander. Mir bleibt auch nichts anders übrig als das gleiche zu tun.
Von da an kippt die Stimmung. Die Menge versucht
immer wieder näher an das Stadion zu kommen, aber die Polizei dringt mit
Pferden und Schildern voran. Alles was den Namen FIFA trägt wird
heruntergerissen und zerstört. Ich sehe, wie Demonstranten einen Bus anhalten. „Der
wird noch brennen denke ich.“ Später erfahre ich von meinem Kollegen Reinhard,
dass es tatsächlich einen brennenden Bus auf dem Platz gibt. Irgendwann schaffe
ich es doch, wie durch ein Wunder durch die Polizeikette zu kommen und den Weg
in Richtung Stadion fortzusetzen. Hinter der Polizeikette sehe ich mehrere
Kamerateams, die sich heulend das Gas aus den Augen waschen. „So kommt hier
heute kein Fan zum Stadion“, denke ich mir.
Insgesamt fand ich die Polizeireaktion völlig
übertrieben und unangebracht. So war das auch schon bei anderen Demos. Was
genau wollen sie verteidigen? Und vor wem? Es muss den Demonstranten doch so
vorkommen, dass die Polizei die FIFA-Party in Brasilien schützt und Brasilianer
dazu nicht eingeladen sind. Ja, sie werden sogar explizit ausgesperrt. Deeskalation
sieht anders aus.
Inzwischen wurden die Bustarife in einigen Städten
wieder gesenkt. Das war auch die einfachste Maßnahme für die Politiker. Es
scheint so, dass der Gesetzesvorschlag PEC 37 auch nicht mehr abgestimmt wird.
Nächstes Jahr im September wird es in Brasilien Präsidentschaftswahlen geben.
Die Regierung spürt schon jetzt den Druck von Links und von Rechts. Die WM
nächstes Jahr ist die nächste große Bühne für Proteste. Ein Ende ist wohl
vorerst nicht in Sicht.
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