Samstag, 3. Mai 2014

Stimmungsbarometer: noch 40 Tage

Immer wieder werde ich gefragt, wie denn die Stimmung in Brasilien sei. Freuen sich die Brasilianer auf ihre WM? Ich antworte dann immer: „Die Stimmung ist komisch, denn zum einen wird über Misswirtschaft, Korruption und schlechte Organisation bei der WM gewettert, aber zum anderen haben sich alle meine Nachbarn und Kollegen um Tickets beworben.“ Es gibt also ein Gefühl der abgrundtiefen Skepsis und Enttäuschung im Bezug auf die WM-Organisation und ihr Vermächtnis, aber es ist inzwischen eine Euphorie im Bezug auf die sportliche Seite zu spüren.
Die Brasilianer sehen ihre Nationalmannschaft inzwischen als Favorit und fordern den Titel. Der Scheidepunkt für beide Seiten dieser Entwicklung war natürlich der Confed Cup 2013. Er hat gezeigt, dass die Seleção gewinnen kann und dass die Brasilianer demonstrieren können.
Diese Woche war ich auf einem Event der Marketing-Firma In Press in Rio de Janeiro, die eine Erhebung in der brasilianischen Presse durchgeführt hat. Bei Kaffee und Kuchen stellte sie ihre Ergebnisse vor, die meinen Eindruck der Stimmungslage verstärkten. Die Meinungsforschungsabteilung der In Press untersuchte Artikel aus Zeitungen und den digitalen sozialen Netzwerken. Im Folgenden möchte ich ein paar Ergebnisse vorstellen.
In Press definierte vier Bereiche, über die berichtet wurde: Sportereignis, Organisation, Infrastruktur und Demonstrationen. Während über Infrastruktur und Organisation ausgeglichen berichtet wurde, wurde über die Demonstrationen sehr negativ und den Sportevent WM sehr positiv berichtet.
Die negative Berichterstattung im Bezug auf die Demonstrationen verlangt nach einer Erklärung, denn eigentlich fühle ich Rückhalt für die Forderungen die auf Brasiliens Straßen 2013 gestellt wurden. Aber zu Beginn des Jahres 2014 wurde jegliche inhaltliche Forderung der Demonstranten ausgeblendet und nur noch über Gewalt, Vandalismus und den möglichen Imageschaden im Ausland berichtet. Dadurch verloren die Demonstrationen massiv an Legitimität in der breiten Bevölkerung. Außerdem wurde ein Klima der Angst kreiert, das sicherlich Viele davon abhalten wird während der WM zu einer Demo zu gehen.
Ein anwesender Sportjournalist von SporTV – Marcelo Barreto – merkte an, dass Brasilien sicherlich eine bessere WM als Südafrika organisieren werde und somit viele düstere Schreckensszenarien übertrieben sind. Aber es wird eben auch keine WM, die besser ist, als die WM 2006 in Deutschland. Seiner Meinung nach war das aber die Anspruchshaltung der Regierung, OK und FIFA bei WM-Vergabe und somit auch die Erwartung der Bevölkerung. Brasilien sollte mit Hilfe der WM komplett reformiert und verändert werden. In Brasilien bestand die Hoffnung ab 12.06.2014 ein neues, modernes, reiches, sauberes und funktionierendes Land zu haben, das sich zu den Großmächten der Welt zählen darf. Dieses Projekt sei gescheitert.
Ich glaube, er hat hier viel Richtiges gesagt. Die Brasilianer verknüpfen mit der WM den Wunsch modern zu werden und wollen zu einer Weltmacht werden. Das klingt komisch. Aber in Brasilien zählt der zweite Platz nichts und so herrscht eine ständige Unzufriedenheit über alle Bereiche in den Brasilien nicht am ersten Platz steht (und das sind viele). Das ist auch der Grund, warum Brasilianer sich bei Siegen bei WMs als Erste-Welt-Land sehen. Wenn Brasilien die WM gewinnt, dann kann der gemeine Brasilianer richtig arrogant werden.
Damit setzt die brasilianische Bevölkerung auf den WM-Sieg, der als einzige Chance gesehen wird, um aus dieser WM mit gehobenem Haupt zu gehen. Die Leute kaufen Tickets und der Fanartikelmarkt brummt. Aber von den Leuten, die das Weltmachtprojekt vergeigt haben will man nichts wissen. Deshalb gab es kein 50-Tage-zur-WM-Fest, bis heute sieht man keine FIFA-WM-Fahnen auf der Straße, usw.
Es ist sogar so, dass sich seit Monaten kein Politiker mehr traut über die WM zu sprechen, selbst der Kritiker Romario ist verstummt. Marcelo Barreto ist das auch aufgefallen und er beklagt: „Die WM hat im Land des Fußballs keinen Fürsprecher! Es mag absurd klingen, aber es ist so. Lula war ein frenetischer Verfechter der WM, aber wir haben es geschafft jetzt eine Präsidentin zu haben, die Fußball nicht mag.“ Die Einschätzung zu Dilma Rousseff ist mir neu, aber mit der Beobachtung, dass es keinen Verfechter gibt, stimme ich überein.
Neben den Demos und der angespannten Stimmung, sind natürlich die Parlamentswahlen im Oktober diesen Jahres. Niemand will sich im Bezug auf die WM zu weit aus dem Fenster lehnen und wartet lieber ab. Diese Beobachtung wird auch von den Daten von In Press gestützt. Mit weitem Abstand ist der FIFA-Generalsekretär Jerome Valcke die meist zitierteste Person im Bezug auf die WM. Damit bestimmt er die Diskussion.

Jerome Valcke, FIFA
25,3%
Dilma Rousseff, Präsidentin
11,4%
Aldo Rebelo, Sportminister
10,0%
Ronaldo, OK
8,1%
Sepp Blatter
5,3%

Die Parteien werden im WM-Monat Juni ihre Ernennungsveranstaltungen durchführen. Die wichtigsten Kandidaten für das Präsidentenamt sind Dilma Rousseff (PT), Aecio Neves (PSDB) und Eduardo Campos (PSB). Die Arbeiterpartei PT pokert sogar richtig hoch und wird Dilma Rousseff am 28.06., also relativ spät, zur Kandidatin erklären. Wenn zu diesem Zeitpunkt Brasilien rausgeflogen ist oder irgendeine größere Panne bei der WM passiert ist, dann könnte das ein Eigentor werden.

Übrigens sind auch die Demos sehr abgeflaut. In den letzten Wochen gab es mehrere brutale Polizeiaktionen, die eher eine Warnung waren: „Schaut her, wie wir reagieren werden, wenn während der WM etwas passiert!“. Die Brasilianer würden so gerne ihren Stereotypen zwischen Gewalt und Partyvolk entfliehen. Aber genau die Gewaltexzesse der Polizei, die überzogenen WM-Hoffnungen und die Konzentration auf das Abschneiden der eigenen Mannschaft verstärken die Stereotypen wieder.

Keine Kommentare: