Montag, 19. Mai 2014

Tod und Spiele

Letzte Woche wurde ich ständig von deutschen, aber auch brasilianischen, Freunden gefragt: „Hast du schon die Spiegel-Titelstory gelesen?“ Meist schließt sich dem dann die ängstliche Frage „Wie wird diese WM: Gewalt oder Party?“ an. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen auf diese Frage zu antworten: ja, ich habe die Reportagen gelesen, es wird wohl mehr Party, als Gewalt geben, aber es gibt auch Probleme.
Zunächst zu der Spiegel-Titelstory: Das Titelblatt mit dem brennenden Ball über Rio ist natürlich schon sensationalistisch. Aber was sollte das Magazin auch anderes machen? So funktioniert halt Journalismus. Im Heft finden sich dann drei Artikel: einer über die politische Lage Brasiliens, einer über die Vorbereitungen auf Demos und ein Interview mit dem Schriftsteller Luiz Ruffato.
Das Interview mit Ruffato mit dem Titel „Wir waren immer gewalttätig“ hat mir am besten gefallen. Er zeigt sich sehr auto-reflexiv und verfällt nicht in den Stammtisch-Allgemeinplatz „Alle Politiker sind korrupt“, sondern bezieht Brasiliens Bürger in seine Überlegungen mit ein. Das zentrale Zitat dazu ist:

Wir Brasilianer sind alle korrupt. Ich selbst bin es, jeder hier ist es. Die soziale Struktur führt dazu, und es macht keinen Unterschied, ob es um einen Real geht oder 100 Millionen. Wir betrügen bei der Steuererklärung oder wenn wir einen Strafzettel bekommen. Korruption ist akzeptiert, viele Menschen glauben sogar, es sei gar keine Korruption, wenn man den Staat beklaut. Weil uns der Staat ja auch beklaut. Gibt es in der Regierung von Dilma Rousseff Korruption? Sicher gibt es die, wie es sie auch unter Präsident Lula gab oder während der Militärdiktatur. Unser gesamtes politisches System ist faul. Und das Schlimmste ist: Wir Bürger leisten keinen Beitrag, um das zu ändern. 

Korruption ist das allgegenwärtige Thema in politischen Alltagsgesprächen. Brasilianer lieben es über Korruption zu sprechen. Selten hört man dabei ein „Ich habe es verpasst etwas dagegen zu tun“. Viel öfter hört man: „Ich werde doch denen da in Brasilia nichts geben“. Somit sind angeblich die Politiker nicht nur an der allgemeinen Situation des Landes, sondern auch im Speziellen an der fehlenden Organsation der WM, schuld. Diese Annahme rechtfertigt zu den Massendemos des letzten Jahres und sogar zu dem Wunsch, dass Brasilien verlieren sollte, denn ein Sieg würde die aktuelle Regierung stützen.
Und damit sind wir bei dem ersten Artikel mit dem Titel „Eigentor Brasilien“, der sich mit der politischen Situation des Landes beschäftigt. Insgesamt zeichnet der Artikel ein ganz gutes Bild der aktuellen politischen Situation Brasiliens, die als krisenhaft bezeichnet werden kann. Das größte Problem ist dabei sicherlich, dass das Wirtschaftswachstum ins Stocken geraten ist. Zu Zeiten der WM-Vergabe, also 2007, befand sich das Land in einem Euphoriezustand: WM-Zuschlag, Wirtschaftswachstum und mit Lula eine ganz außergewöhnliche Figur im Präsidentenamt.
FIFA, CBF, WM-OK und Regierung haben damals die Erwartungen geschürt und das Bild eines reichen, modernen Brasiliens mit sinkender sozialer Ungleichheit gezeichnet. Das war übertrieben und jeder hat es gewusst, aber man wollte es nur all zu gerne glauben. Eine WM verändert kein Land. Das war noch nie so. Heute zeigt sich, dass FIFA, CBF, WM-OK und Regierung mit dem Aufbau dieser Erwartungshaltung einen strategischen Fehler begangen haben.
Denn diese überzogene Erwartungshaltung lenkt von den Fortschritten, die in den letzten Jahren gelungen sind ab: Sozialhilfe „Bolsa Familia“, Unterstützung beim sozialen Wohnungsbau „Minha Casa minha Vida“ und ein Anstieg des Mindestlohnes von $100 auf $350 in 10 Jahren. Diese positiven Entwicklungen kommen in dem Artikel zu kurz.
Und hier wird Korruption zum großen Thema, denn in der Regierung Lula wurde ein großer Skandal aufgedeckt, der in den letzten Jahren im sogenannten „Mensalão Prozess“ behandelt wurde. Die Sitzungen wurden live im Fernsehen gezeigt und viele Angeklagte (aus Lulas Regierung) zu hohen Geld- und Haftstrafen verurteilt. Ist das nicht eine entscheidende Änderung?
In Dilmas erstem Regierungsjahr wurden sechs Minister wegen Korruptionsverdacht entlassen. Dilma hat mit eiserner Hand durchgegriffen. Mir scheint es, dass sie getan hat, was sie konnte. Schließlich zitiert der Artikel die aktuelle Affäre im staatlichen Ölkonzern Petrobras. Ganz ehrlich: ein Präsident kann nicht alle Mitarbeiter in Regierung, Parlament und staatlichen Betrieben überwachen. Ich finde hier wird zu viel verlangt.
Fakt ist, dass im Moment eine komische Stimmung im Land herrscht. Die Brasilianer würden gerne ihre Nationalmannschaft anfeuern, fühlen aber, dass sie damit die politische Elite stärken würden, was sie verhindern wollen. Präsidentin Dilma hat einen Fünf-Punkte-Plan, als Reaktion auf die Demos 2013, vorgelegt. Bei vier Punkten wurden konkrete Maßnahmen ergriffen, nur der fünfte Punkt im Bezug auf die Reform des politischen System, scheint im Sand zu verlaufen. Und das ist nicht die Schuld Dilmas, denn in diesem Punkt kann sie vom Parlament überstimmt werden. Aber die Maßnahmen sind im Alltag nicht sichtbar und so fühlen sich die Brasilianer, als ob die Demos zu nichts geführt hätten.
Ich finde, dass der Artikel insgesamt zu negativ ist, aber er gibt die aktuelle Stimmung in Brasilien wieder. Die Leute sind sehr skeptisch in Bezug auf WM-Organisation, Politik, Korruptionsbekämpfung und dem Traum eines modernen Landes. Diese Stimmung hat natürlich durchaus Konfliktpotential und dem widmet sich der letzte Artikel mit dem Titel „Jagd auf die weißen Elefanten“.
Der Artikel stellt zwei (oder drei) Akteure der Demonstrationen 2013 gegenüber: zum einen Vertreter der Black Blocs und der sozialen Bürgerbewegung und zum anderen die Spezialeinheit der Polizei BOPE. Damit werden hier zwei radikale Gruppen gegenübergestellt, die keineswegs den Großteil der brasilianischen Gesellschaft repräsentieren, sondern meist ablehnend wahrgenommen werden. Somit übertreibt der Artikel.
Die BOPE ist eine Spezialeinheit in der Militärpolizei, die für den Einsatz bei Protesten zuständig ist. Sie sind bekannt für ihre brutale Vorgehensweise, was schon in dem Film „Tropa de Elite“ dargestellt wurde. Die Black Blocs sind ein kleiner vermummter Teil der Demonstrationen, deren Mitglieder in intellektuellen Ansprachen im Internet Gewalt verherrlichen. Hier ist den Autoren, meines Erachtens, ein Recherchefehler unterlaufen, denn die Black Blocs stammen nicht mehrheitlich aus der Unterschicht, sondern aus der Mittelschicht in Rios Südzone.  
Schließlich werden die Anliegen der sozialen Bewegungen, der Comitees Populares, dargestellt. Deren Anliegen sind absolut unterstützenswert, denn sie verteidigen, zum Beispiel Personen, die von Zwangsumsiedlungen betroffen sind. Leider erfahren sie viel zu wenig Unterstützung in der breiten Gesellschaft. Somit sind auch sie keineswegs repräsentativ.
Somit muss man sich fragen, was der Artikel genau aussagen will? Während der WM wird es Mord und Totschlag geben und wir müssen um die Sicherheit unserer deutschen Fans und Spieler fürchten? Das sind doch genau die Ängste, die im Moment in der Presse geschürt werden und die einfach übertrieben sind.
Gibt es Konfliktpotential? Ja, das gibt es. Wenn es denn Demonstranten, wie im Text angekündigt, gelingen würde, den Tunnel nach São Conrado, zu sperren, würde das zu großer Aufmerksamkeit und brutalen Auseinandersetzungen führen? Ja, das würde es. So, wie, im Übrigen, in jedem anderen Land der Welt auch.
Aber: wir sprechen hier von kleinen, radikalen Gruppen, die inzwischen von der Polizei kontrolliert werden. Strategisch ist es dumm, solche Pläne zu veröffentlichen, denn auch die brasilianische Polizei liest den Spiegel. Der Großteil der Bevölkerung hat vor der Gewalt Angst und wird den Demos fernbleiben. Die Brasilianer sind sehr auf Gastfreundschaft bedacht und werden (außer bei Überfällen, wie es sie immer gab) Touristen gut behandeln. Brasilianer sind sehr kritisch, aber auch sehr stolz auf ihr Land und werden es nicht schlecht darstellen wollen.
Schließlich werden die Brasilianer natürlich ihre Nationalmannschaft frenetisch unterstützen. Es wird zwischen dem Sport- und dem Organisationsereignis getrennt, wie hier beschrieben: http://www.imlanddesfussballs.blogspot.com.br/2014/05/stimmungsbarometer-noch-40-tage.html . Die Fanartikel der WM verkaufen sich sehr gut und werden inzwischen an jeder Ecke angeboten. Von der Seleção wird nichts anderes als der Titel erwartet. Man kann also getrost nach Brasilien kommen und, unter Beachtung der üblichen Sicherheitsregeln, eine WM feiern.
Ich denke, man muss die drei Artikel untereinander in Bezug setzen: natürlich gibt es radikale Gruppen und Konfliktpotenzial, aber es gibt auch andere Seiten und inklusive sehr reflektierte Sichtweisen. Somit fand ich die Grundstimmung zu pessimistisch. Die Demonstrationsbewegung von 2013 kann, und muss, positiv gesehen werden. Sie ist ein absolutes Novum in der WM-Geschichte und hat sehr positive Reflektionsprozesse in Brasilien und, ich denke auch, in anderen Ländern angestoßen.
„Welche Rolle hat die FIFA?“, „Was für eine Polizei wollen wir?“, „Wie kann man erfolgreich Korruption bekämpfen?“, „Was für ein Land wollen wir?“. All diese Fragen wurden mit Vehemenz in die Öffentlichkeit getragen und werden weiterhin diskutiert. Brasilien hat sich als sichere und selbstbewusste Demokratie gezeigt und kann so auch für andere Länder als Vorbild dienen.

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