Dienstag, 6. August 2013

Proteste in Brasilia


Als ich am Wochenende in Brasilia ankam bemerkte ich, dass auf dem Rasen vor dem Nationalkongress etwa hunderte Zelte aufgeschlagen waren. Seit dem Protestcampen in Spanien ist das eine beliebte Form, um gegen Missstände zu protestieren. Auch in Brasilien wurde diese Art der Demonstration schon in mehreren Städten praktiziert.
Sonntag in der früh hatte ich etwas Zeit und beschloss die Demonstration zu besuchen. Insgesamt sah die Zeltstadt eher leer aus, fast wie die Installation irgendeines Action-Künstlers. Am Straßenrand waren mehrere Spruchbänder befestigt, die, wie gewohnt, eine weite Bandbreite an Forderungen versammelten. Mitten in der Zeltstadt fand ich eine Art Zentrale, in der sich vier junge Demonstranten aufhielten, mit denen ich ein Gespräch begann.


An dem Gespräch nahmen drei der Anwesenden Teil, die von mir Spitznamen bekamen: der Vernünftige, der Texaner und der Punk.
„Warum seid ihr hier?“
„Wir wollen gegen die Korruption und für eine Reform des politischen Systems protestieren.“, antwortet mir der Vernünftige.
„Welcher Gruppe gehört ihr an?“
„Keiner. Wir lehnen Parteien ab, denn sie sind korrupt und Schuld an der politischen Misere Brasiliens. Wir möchten hier einfach Forderungen und Bedürfnisse sammeln und ihnen zu Gehör verhelfen.“, fährt der Vernünftige fort.
Da schaltet sich der Texaner ein: „Ich bin hier einfach als Vertreter des Volkes. Deshalb gehöre ich keiner Partei an.“
 Damit setzt sich die unstrukturierte Form der Protestbewegung fort. Es gibt ein allgemeines und diffuses Gefühl der Unzufriedenheit, mit dem eine Opposition aus Parteipolitikern, die alle korrupt wären, und dem allgemeinen Volk kreiert wird. Diese Unzufriedenheit kann ganz verschiedene Gründe haben: Transport oder Gesundheitssystem oder eben die politische Struktur. Die Ablehnung von Parteien, da es angeblich einen allgemein bekannten Volkswillen gibt, den diese Parteien ignorieren, führt dazu, dass sich jemand, der nie einen Wahlkampf geführt hat, als legitimer Volksrepräsentant fühlt, wie es der Texaner tat. Er würde das Volk eher vertreten, als ein Politiker, der tausende von Stimmen bekommen hat.


Ich frage weiter, seit wann sie hier campieren.
 Der Vernünftige antwortet: „Seit 5. Juli. [also nach dem Confed Cup] Damals begann ein Protest der Gefängniswärter. Ihnen wurde verboten im Privatleben Waffen zu tragen. Sie fürchten nun, um ihr Leben. Deswegen begannen sie hier ihre Zelte aufzuschlagen. Wir haben uns dann angehängt. Wir planen bis zum 7. September, dem Nationalfeiertag, hier zu bleiben. Dann soll es riesige Demos in ganz Brasilien geben.“
Dazu der Texaner: „1822 war der 7. September der Tag der Unabhängigkeit von Portugal. 2013 soll es der Tag der Unabhängigkeit von der Korruption werden.“ 
Der Vernünftige nutzt die Gelegenheit und beginnt mich über meine Meinung als Ausländer auszufragen. „Was hältst du von den Demonstrationen? Gibt es in Deutschland auch so viel Korruption? Welches politisches System bevorzugst du?“


Ich kann jetzt nicht die ganze Diskussion wiedergeben, aber ich habe in erster Linie angemerkt, dass ich mir ein politisches System ohne Parteien nicht vorstellen kann. Es muss, aus meiner Sicht, in irgendeiner Art Institutionen geben, die Meinungen bilden und zusammenfassen, um sie dann effektiv vertreten zu können. Diese Institutionen nennen wir Parteien. Dem haben meine Gesprächspartner dann auch nicht weiter widersprochen. „Man muss aber Mittel finden, um diese Parteien besser zu kontrollieren und so die Korruption zu vermeiden.“, erwiderte der Vernünftige.
In diesem Moment schaltete sich der Punk ein, der mich wegen meiner Parteienfreundlichkeit zur Rede stellen wollte. Seine Argumentation war ein konfuses Gemenge aus Jesse Owens, Hitler, der brasilianischen Militärdiktatur, bis hin zu Romario. Wichtiger als seine Argumentation erschien mir, dass sich die anderen Gesprächspartner zurückzogen, als er das Wort ergriff. Sie wollten scheinbar nichts mit ihm zu tun haben. Es wurde deutlich, dass es Gruppen und Gegensätze, selbst in einer so kleinen Demonstrantengruppe gibt.  


Mir gelang es mich des Punk zu entledigen und mein Gespräch mit den anderen fortzusetzen. Diese diskutierten gerade über ein Gesetzesprojekt, das vorsieht, das strafmündige Alter in Brasilien auf 12 Jahre herabzusetzen. Der Vernünftige war scheinbar dagegen, aber der Texaner verteidigte engagiert die Verabschiedung eines solchen Gesetzes: „Was hält jemanden davon ab, ein Verbrechen durchzuführen? Angst. Unsere Jugend hat keine Angst, denn es kann ihr bei so laschen Gesetzen nichts passieren. Sie muss Angst haben. Deswegen brauchen wir härtere Gesetze. Ich sage nicht, dass sie ins Gefängnis sollten. Man müsste Jugendanstalten bauen, in denen sie etwas lernen können.“
Die Argumentation ist unglaublich, denn sie kommt aus dem Mund eines etwa 30-jährigen, der bis vor kurzem selbst noch der Jugend angehört hat, die er jetzt so brandmarkt. Insgesamt zeigt er eine sehr konservative „Law and Order“-Weltanschauung, wie ich sie eher einem George Bush zuordnen würde und nicht einem zeltenden Demonstranten.


Im Übrigen: solche Jugendanstalten existieren in Brasilien. Sie sind nur schlecht ausgerüstet. Es erscheint mir also, dass nicht das Gesetz mangelhaft ist, sondern die Infrastruktur und das Equipment.
Aber der Texaner ging noch weiter:
„Deswegen unterstütze ich auch die Gefängniswärter. Sie leben oft jahrelang mit den Gefängnisinsassen, die sich ihre Gesichter einprägen können. Stell die vor, dass so ein Krimineller nach seiner Haft in die Nachbarschaft des Gefängniswärters zieht. Wie soll der denn dann seine Familie gegen diesen Kriminellen schützen?“
Das ist genau die Argumentation, die immer wieder Anti-Waffen-Gesetze in den USA verhindert. Das Individuum hätte einen Anspruch auf Selbstverteidigung. Deswegen habe ich ihn „den Texaner“ getauft. Ich beschloss nicht weiter auf die Diskussionen einzugehen und wieder ins Hotel zurückzugehen. Aber vorher machte ich noch ein paar Fotos von den Spruchbändern der Gefängniswärter. Sie hatten auch einige Kreuze aufgestellt, um ermordeter Kollegen zu gedenken.


Ich möchte zum Schluss noch einige Anmerkungen zu den Gesprächen mit den Demonstranten anbringen:
1.      Es handelt sich auf keinen Fall um eine homogene Protestbewegung, die an einem Strang zieht. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass die Demonstranten teilweise sehr gegensätzliche Ansätze vertreten. In diesem Falle: liberale Studenten verbünden sich mit Repressionskräften (Gefängniswärtern).
2.      Die Demonstrationen werden sich noch hinziehen. Sie werden sicherlich schwerwiegende Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr im Herbst haben.
3.      Den Demonstrationen liegt der Glaube daran zu Grunde, dass es zum einen tatsächlich einen einheitlichen Volkswille gebe und dass zum anderen nachgewiesen sei, dass alle Politiker korrupt sind. Der Glaube in die Korruption ist wichtig für die Demonstranten. [Weder für den Volkswillen, noch für die Korruption gibt es Beweise.]
4.      Einend ist auch die Ablehnung der Parteien. Das halte ich für sehr kompliziert aufgrund zweier Beobachtungen:
A)     Bei den Demonstrationen wurden Fahnen von kleinen linksgerichteten Parteien und Organisationen zerrissen und von den Demonstrationen ausgeschlossen. Diese Vorgehensweise erschien mir doch sehr undemokratisch. Im Endeffekt wurde in dieser Situation das Recht des Stärkeren ausgeübt. Das könnte mit geordneten Wahlgängen und Diskussionen zwischen Parteien, als Interessensvertretern, eingedämmt werden. 

B)     Aus meiner Sicht ist das Problem Brasiliens nicht die Existenz der Parteien, sondern – ganz im Gegenteil – die Schwäche der Parteien. Die Parteien sind so unbedeutend, dass sie als reines Mittel zur Wahl genutzt werden. Mit Leichtigkeit wechseln Politiker die Partei oder gründen einfach eine neue. Man sollte eher Maßnahmen ergreifen, um die Parteien zu stärken, wie: 5%-Hürde, Wahlkreise, Listenwahl und Parteientreue. Damit würde man Berufspolitiker, die eine Karriere machen, stärken und Phänomene, wie die Wahl von Quereinsteigern, die ihre Stimmen aufgrund ihrer Popularität als TV-Star oder Fußballspieler ergattern, erschweren. Die Parteien wären gezwungen ein Wahlprogramm vorzustellen, was die Transparenz erhöhen würde und so die Vorwürfe der Korruption eindämmen könnte.

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